Julian Palacz

Roman Gerold

Das Internet ist mir früher größer vorgekommen

"Wie sehen uns die Rechner?", fragt sich der 30-jährige Medienkünstler Julian Palacz - und verwandelt maschinell angehäufte Datenmassen in Bilder. Dem World Wide Web wünscht er zum 25. Geburtstag mehr Neutralität und Offenheit. Ein Porträt

Eine skelettierte Winkekatze begrüßt einen vom Arbeitstisch aus, wenn man die Wohnung des Medienkünstlers Julian Palacz betritt. Das Innenleben des fernöstlichen Kitsch-Klassikers ist freigelegt, und statt des Winkearms ist ein kleines Laufschrift-Display montiert. In neonblauen Lettern huscht die Entstehungssage dieser "Lucky Cat" vorbei, während die Pendelbewegung den Leser hypnotisiert. Ein "Versatzstück" nennt Palacz dieses Experiment, ebenso wie eine wüst aufgebogene Computertastatur gleich neben der Katze. Palacz wollte sie auf dem Ofen nur trocknen. Jetzt erinnert sie ihn an die berühmte Welle des japanischen Holzschnittmeisters Hokusai.

Spielereien und Experimente vermischen sich in Palacz' Atelier mit seinen abgeschlossenen Arbeiten. Überall gibt es etwas zu entdecken. Dem Klischee von Medienkünstlern, die gerne in neonbeleuchteten Techno-Rumpelkammern praktizieren, entspricht er allerdings nicht. Palacz gefällt es, an seinem Arbeitsplatz Jahrhunderte und Kulturkreise aufeinandertreffen zu sehen: die klassische Architektur und das Technoide, Flimmernde, Fragmentarische. Gleich neben einer Skulptur aus einem Computer-Lüftungsgitter streckt eine Buddha-Figur den Bauch heraus.

Wir und die Software

Zu den Kleinodien gehört auch ein quadratischer Spiegel, der nur auf den ersten Blick gewöhnlich ist: Hinter dem Spiegelglas befindet sich eine Mini-Kamera, die den Betrachter filmt. Das verpixelte Konterfei wird dann mit dem Spiegelbild überlagert. Das Objekt sei eine Spielerei aus Studententagen an der Universität für angewandte Kunst, sagt Palacz. Es ist aber auch Grundlagenforschung zum Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihren medialen Abbildern; also zu jenem Thema, das auch Palacz' ehemaligen Lehrer Peter Weibel umtreibt. Dessen Forschungen führt der Absolvent auf seinen eigenen Wegen - und unter neuen Vorzeichen - fort.

Die Übersetzung des Menschen in Daten, etwa eines Gesichts in Pixel, ist heute nur noch die Grundlage. Wenn Julian Palacz sich in seinen Arbeiten fragt, "wie uns die Rechner sehen", dann geht es ihm bereits um die Weiterverarbeitung dieser Daten durch Algorithmen in Computerprogrammen. Das Bildmaterial aus Überwachungskameras wird heute vielfach nicht mehr von Menschen gesichtet, sondern von Maschinen. Gesichter oder Bewegungsmuster werden automatisch erkannt.

"Der öffentliche Raum funktioniert heute oft nur mehr über Software", sagt Palacz. Dabei ist es etwa von Vorteil, wenn Massenpaniken frühzeitig erkannt werden können. Aber auch die Kehrseite dieser modernen Kulturtechniken ist bekannt: Wer sich in einer U-Bahn-Station nicht so verhält, wie es der Rechner "erwartet", macht sich verdächtig. Wo Konsequenzen ohne menschliches Einschätzungsvermögen gezogen werden, sind folgenschwere Missverständnisse möglich.

Palacz' Kunstgriff bei den Surveillance Studies #1 besteht darin, maschinell angehäufte Daten für Menschen aufzubereiten - also für Augen, für die sie nie bestimmt waren: In seinen großformatigen Drucken überlagert er Tracking-Daten, die Fußgänger und Autofahrer auf Überwachungsvideos hinterlassen haben. Nicht zufällig ist das Werk in Schanghai entstanden, wo Palacz 2013 ein sechsmonatiges Artist-in-Residence-Programm absolviert hat. Es sei ihm dort ein bisschen vorgekommen wie in George Orwells 1984, jenem Klassiker der Science-Fiction. "China macht keinen Hehl aus der Überwachung. Die wollen, dass man das sieht", erzählt Palacz. Bisweilen hängen in den U-Bahn-Stationen sogar affirmative Erfolgsberichte über aufgeklärte Verbrechen.

Überall dort, wo Überwachung bewusstgemacht wird, mag der westliche Betrachter kritisches Potenzial sehen; in China blieb dieses unerkannt. Seine Surveillance Studieshätten dem chinesischen Publikum durchaus gefallen, aber ein Dialog darüber habe sich nicht entsponnen. "Nacktheit ist dort sicher das größere Problem", befindet Palacz im Hinblick auf die Arbeit einer anderen Künstlerin. Und Partizipation: Eine öffentliche Unterschriftensammlung rief in Schanghai Ordnungshüter auf den Plan.

Auch in Bewegungsstudie einer Computermaus hat Palacz die Inhalte von Computergehirnen ästhetisch aufbereitet. Oder für das Buchprojekt Content Type Image: Zweieinhalb Monate lang hat der Künstler sich selbst mit einem HTTP-Proxy-Programm überwacht und sämtliche Bilder, die in seinem Browser auftauchten, gespeichert. Einheitlich skaliert und in chronologischer Reihenfolge wurden sie dann auf 538 Buchseiten gedruckt, 300 Bilder pro Seite.

Erschienen ist das Buch beim Verlag Traumawien, den Julian Palacz mitbegründet hat. Traumawien ist sogenannten "digital born stories" gewidmet, also all jenen Textsorten, die erst im digitalen Zeitalter aufgetaucht sind.

Für das Buch End Tell etwa installierte Palacz für drei Monate einen Keylogger auf seinem Computer: eine Software, die sämtliche Tastatureingaben protokolliert. Gemeinhin wird diese Methode von Cyber-Kriminellen verwendet, um an Passwörter zu gelangen. Die Wurst von Buchstaben, Zahlen, Vorwärts- und Rückwärtssprüngen wurde dann (unzensiert) veröffentlicht. Vollständig gelesen hat Palacz das 740 Seiten starke Buch nie.

Als Programmierer war Palacz schließlich auch am Verlagsprojekt "Ghostwriters" beteiligt. Ein Algorithmus verwandelte die Postings unter Youtube-Videos in Dramen und publizierte diese automatisch als E-Books bei Amazon.Nope. Oh, and 6.8/9 heißt ein Buch etwa, sein angeblicher Verfasser: DaBaddy100. Wie viele Bücher die Software online gestellt hat, bevor Amazon eingriff, ist selbst ihren Erschaffern unbekannt. Mit Projekten wie diesen stellt das dreiköpfige Verlagsteam jedenfalls Roland Barthes' Frage nach dem "Tod des Autors" neu.

"Das Internet ist mir früher viel größer vorgekommen", sagt Palacz. Er spielt damit auf jene Entwicklung an, die aus der endlosen Bibliothek von einst ein recht zentralistisch organisiertes Ding gemacht hat. Was wir im Internet finden, wird etwa stark von Googles Algorithmen bestimmt. Facebook ist zum Teil zum Inbegriff von Internet geworden. Zum 25. Geburtstag wünscht Palacz dem Internet daher mehr Offenheit, mehr Neutralität und dass es "weniger ein Konsumkanal" werde.

Erschienen im Standard vom 7. März 2014